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Selbstständig mit psychischer Erkran­kung: Die Chance auf ein bedürfnis­orientiertes Berufs­leben – Interview mit Sarina Wassermann

Das Wichtigste vorweg: Psychische Diagnosen sind kein Ausschlusskriterium für eine Karriere als Solo-Selbstständige:r oder Freiberufler:in. Manchmal sind sie sogar die Initiatoren. Weil unser Arbeitsmarkt für die besonderen Bedürfnisse psychisch Erkrankter nicht bereit ist. Und weil es genau dafür Lösungen braucht.

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Arbeit als wichtiger Bestandteil des Lebens

Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist für die meisten Menschen ein wichtiger Bestandteil eines gesunden, ausgeglichenen Lebens. Dass das auch – oder vielleicht sogar insbesondere – für Menschen mit psychischer Erkrankung gilt, zeigt eine Studie von Dorothea Jäckel und anderen aus dem Jahr 2020 (vgl. Quelle 1). Hier wurden 176 Patient:innen in (teil-)stationärer Behandlung befragt. 71 Prozent der Befragten zwischen 18 und 65 Jahren, die zu diesem Zeitpunkt nicht in Ausbildung oder Beschäftigung waren, gaben an, dass Arbeit für sie ein relevantes Thema sei.

Tägliche Struktur, soziale Kontakte, das Gefühl des Eingebundenseins, Erfolgserlebnisse – all das und vieles mehr kann ein angemessen gestalteter Arbeitsalltag bedeuten. Menschen mit psychischer Erkrankung steht leider genau dies oft im Weg.

Psychische Erkrankungen sind Volkskrankheiten

In Deutschland sind jedes Jahr 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen (vgl. Quelle 2). Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Nordrhein-Westfalen. Damit treten psychische Erkrankungen etwa so häufig auf wie zum Beispiel Bluthochdruck. Das macht psychische Erkrankungen zu Volkskrankheiten (vgl. Quelle 3). Es wird also höchste Zeit, dass sich dieses Thema raus aus der Tabuzone, rein in die Gesellschaftsfähigkeit entwickelt.

Depressionen sind Hauptakteure

Eine der häufigsten psychischen Diagnosen in Deutschland lautet Depression (vgl. Quelle 2). In Deutschland erkranken jährlich rund sechs Millionen Menschen an Depressionen (vgl. Quelle 4). Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen als Männer.

Sarina Wassermann von Diagnose: Arbeitsunfähig - Artikelbild von lexfree
Sarina Wassermann, Initiatorin von Diagnose: Arbeitsfähig

Glücklicherweise finden sich immer mehr Menschen, die offen über ihre psychischen Leiden sprechen. Oder noch besser darüber, wie sie ihr Leben damit gestalten. Einer dieser mutigen Menschen ist Sarina Wassermann, Initiatorin der Initiative Diagnose: Arbeitsfähig, die sich mit dem Berufseinstieg von Studienabsolvent:innen mit psychischer Erkrankung befasst.

lexfree: Worum geht es bei der Initiative Diagnose: Arbeitsfähig und was macht sie so wichtig – für dich und für andere?

Sarina Wassermann: Diagnose: Arbeitsfähig richtet sich an Menschen mit psychischer Erkrankung, die nach ihrem Studium ins Berufsleben einsteigen möchten. Dieser Übergang bedeutet eine enorme Umstellung und bringt auch einige Hürden mit sich.
Zum Beispiel teilst du dir im Studium deine Zeit und Kräfte selbst ein. Je nach deinen individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Das ist in der Arbeitswelt alles andere als der Normalfall und oftmals nur in Berufen möglich, für die du mit deinem akademischen Abschluss überqualifiziert bist. Hier gibt es reichlich Entwicklungspotenzial auf Seiten von Unternehmen und Arbeitgeber:innen.

Wir unterstützen daher nicht nur Akademiker:innen mit psychischer Erkrankung beim Berufseinstieg, sondern möchten gleichzeitig die Gesamtsituation auf dem Arbeitsmarkt für diese Menschen verbessern. Mehr Bewusstsein dafür schaffen, was psychische Erkrankungen denn eigentlich bedeuten und welches besondere Potenzial diese Menschen mitbringen können. Nicht trotz, sondern manchmal eben auch gerade wegen ihrer Krankheitsgeschichte.

Die Idee für die Initiative ist aus meiner eigenen Geschichte geboren. Während meiner Masterarbeit im Studiengang Internationales Informationsmanagement 2020 habe ich mich gedanklich mit dem Einstieg in die Arbeitswelt befasst – und keinen adäquaten gefunden. Ebenso wenig wie die passende Unterstützung. Es gab zwar viele Beratungs- und Hilfsangebote für Menschen mit psychischer Erkrankung, aber ich habe mich von den bestehenden Maßnahmen einfach nicht abgeholt gefühlt. Die meisten Angebote richteten sich an Menschen, die bereits im Arbeitsleben stehen. Die wenigen Angebote für berufseinsteigende Akademiker:innen waren nicht spezialisiert und letztlich wenig profitabel für mich. Also habe ich mich daran gemacht, selbst eine Lösung zu schaffen. Für mich, indem ich den Weg in die Selbstständigkeit gehe, und für andere, indem ich sie auf ihrem Weg ins Berufsleben unterstütze.

lexfree: Magst du uns ein wenig mehr über deine Geschichte erzählen? Welche Diagnose, welche Hürden, welche Lösungen?

Sarina Wassermann: Vor rund sieben Jahren erhielt ich die Diagnosen „wiederkehrende Depressionen und Angststörung“. Die Phase akuter Panikattacken ist glücklicherweise inzwischen vorüber. Was bleibt, ist das Wissen, ein Mensch zu sein, dessen Akku schneller entlädt. Das heißt, ich benötige unheimlich viel Flexibilität in meinem Alltag, um ausreichend Pausen und Regeneration einbauen zu können. Ich kann nicht planen, wie andere Menschen es tun. Ich stehe morgens auf und frage mich: Wie geht es mir heute, wie ist mein Energielevel, was kann ich heute leisten?

Im Studium war das streckenweise schwierig, aber ich habe es hinbekommen. Gut, ich habe insgesamt zehn Jahre studiert – allerdings inklusive zwischenzeitlichem Studiengangwechsel, Arbeit neben dem Studium und drei Urlaubssemestern wegen Klinikaufenthalten. Mit meinem Masterabschluss von 1,1 gehörte ich letztlich zu den Jahrgangsbesten. Es ist also nicht so, dass ich weniger leisten kann. Ich brauche nur den passenden Rahmen. So ist das bei den meisten Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Allerdings sind die konkreten Bedürfnisse natürlich unterschiedlich.

Ich glaube, ich habe leider das Fundament an Sicherheit und Stabilität in meiner Kindheit nicht mitbekommen, was man braucht, um ein:e gesunde:r Erwachsene:r zu werden. Es ist eine unglaubliche Herausforderung, ohne dieses Fundament die gleichen Hürden und Herausforderungen bewältigen zu müssen wie andere Menschen. Gerade wenn man gleichzeitig damit beschäftigt ist, seine Kindheit oder Vergangenheit aufzuräumen. Das ist wirklich unfassbar schwierig.

lexfree: Wie meisterst du deinen Arbeitsalltag aktuell?

Sarina Wassermann: Ähnlich wie im Studium kann ich mir meinen Arbeitsalltag entsprechend meinen individuellen und vor allem aktuellen Bedürfnissen gestalten. Eine Vollzeitstelle kommt für mich aktuell nicht infrage. Ich arbeite für die Initiative maximal 20 Stunden die Woche und die ganz flexibel.

Struktur, sozialer Kontakt und auch Erfolgserlebnisse sind sehr wichtig für mich, ich brauche also Arbeit, um gesund zu werden. Und das geht wirklich vielen Menschen so. Es ist also enorm wichtig, hier für mehr Inklusion zu sorgen.

lexfree: Was empfiehlst Du anderen Menschen mit psychischer Erkrankung für ihre Selbstständigkeit?

Sarina Wassermann: Ich würde da zunächst gar nicht so einen Unterschied zwischen Menschen mit psychischer Erkrankung und Menschen ohne machen. Bezüglich der Selbständigkeit gibt es ja die viel zitierte Redewendung „selbst und ständig“. Wer sich die zu Herzen nimmt, wird – auch wenn er:sie bei bester Gesundheit ist – das sicherlich nicht auf Dauer bleiben. Selbstfürsorge ist also das A und O. Für mich heißt das, meine gesetzte Stundenanzahl nicht zu übersteigen und auch ein langsameres Wachstum in Kauf zu nehmen.

Im Bereich Gründungsideen gibt es beispielsweise viele Wettbewerbe, bei denen man Förderungen (inhaltlich oder auch monetär) gewinnen kann und die einem Sichtbarkeit verleihen. Am liebsten würde ich an allen auf einmal teilnehmen. Letzen Monat hatte ich die Deadlines von drei verschiedenen Wettbewerben auf meiner Liste. Die Teilnahme wäre eine Wahnsinnschance für Diagnose: Arbeitsfähig gewesen. Ich habe es aber nicht geschafft. Meine Kapazität hat „nur“ für einen Wettbewerb gereicht. Die anderen musste ich von meiner To-Do Liste kicken. Das war sehr traurig für mich, aber ich übe mich in der Einstellung: Ein kleiner Schritt ist besser als gar keiner. Und bei dem Wettbewerb, an dem Diagnose: Arbeitsfähig teilgenommen hat, hat das Projekt den zweiten Platz gemacht!

Vielleicht klingt das jetzt so, als würde mir diese achtsame Einstellung leicht von der Hand gehen. Tut sie aber nicht. Ich habe charakterlich schon eine sehr sture und ungeduldige Natur, dass ich bei dem Wort Achtsamkeit Hautausschlag bekommen könnte. Es ist also vielmehr ein ständiger Prozess, in dem ich oft an meine Grenzen komme und dann rückwirkend schaue, wo ich mir vielleicht zu viel zugemutet habe und an welchem Schräubchen ich drehen kann, um das zu ändern. Womit ich am meisten zu hadern habe: in Pausen nicht übers Business grübeln.

Noch ein Extratipp: Es gibt viele Gründungsberatungen für Menschen, die den Einstieg in die Selbstständigkeit wagen wollen. Ich persönlich habe sehr davon profitiert, mich explizit an found it gewendet zu haben, eine Gründungsberatung für Menschen mit Behinderung.

Viele wissen gar nicht, dass sie mit einer psychischen Erkrankung theoretisch einen Grad der Behinderung bekommen können. Allerdings lehnen die Versorgungsämter Anträge im Vergleich zu anderen Beeinträchtigungen überdurchschnittlich häufig ab (vgl. Quelle 5). Einen Versuch ist es aber allemal wert.

Quellen
  1. Jäckel, Dorothea; Siebert, Stefan; Baumgardt, Johanna; Leopold, Karolina; Bechdolf, Andreas (2020): Arbeitsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen und Unterstützungsbedarf von Patienten in der (teil-)stationären psychiatrischen Versorgung. In: Psychiatr Prax 47(05), S. 235–241.
  2. Jacobi F, Höfler M, Strehle J, Mack S, Gerschler A, Scholl L, Busch MA, Maske U, Hapke U, Gaebel W, Maier W, Wagner M, Zielasek J, Wittchen H­U (2014): Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul „Psychische Gesundheit“ (DEGS1­MH). Nervenarzt 85:77–87.
  3. Jacobi F (2012): Warum sind psychische Störungen Volkskrankheiten? In: Vorstand des BDP (Hrsg). Die großen Volkskrankheiten. S. 16–24. Deutscher Psychologen Verlag, Berlin.
  4. DGPPN, BÄK, KBV, AWMF (Hrsg.) für die Leitliniengruppe Unipolare Depression*. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression – Langfassung, 2. Auflage. Version 5. 2015. DOI: 10.6101/AZQ/000364. www.depression.versorgungsleitlinien.de (zuletzt aufgerufen am 30.12.2020).
  5. beeinträchtigt studieren – best2, Seite 30. Datenerhebung zur Situation Studierender mit Behinderung und chronischer Krankheit 2016/17. Deutsches Studentenwerk.

Drei wichtige Fragen und Antworten zum Thema kurz und knapp

Wem hilft die Initative Diagnose: Arbeitsfähig?

Diagnose: Arbeitsfähig richtet sich an Menschen mit psychischer Erkrankung, die nach ihrem Studium ins Berufsleben einsteigen möchten.

Selbstständigkeit steht ja für „selbst“ und „ständig“. Ist ein hohes Leistungspensum mit einer psychischen Behinderung überhaupt machbar?

Ja! Selbstfürsorge ist also das A und O. Das heißt zum Beispiel, eine individuell gesetzte Stundenanzahl nicht zu übersteigen und auch ein langsameres Wachstum in Kauf zu nehmen.

Was tun, wenn man als Mensch mit Behinderung gründen möchte?

Eine Gründungsberatung für Menschen mit Behinderung ist zum Beispiel found it.

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