Was heißt „behindert“?
Menschen mit Behinderung sind körperlich, seelisch, geistig oder sinnesbeeinträchtigt. Ihr Körper- und/oder Gesundheitszustand weicht von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab. Und zwar in solchem Maße, dass diese Beeinträchtigungen sie länger als sechs Monate an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern.
Als schwerbehindert gelten Personen, denen vom Versorgungsamt ein Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 zuerkannt wurde. Der GdB wird nach Zehnergraden von 20 bis 100 abgestuft festgestellt. So viel zur Theorie.
Allgemeine Lage
In Deutschland lebten zum Jahresende 2021 rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen. Davon hatten 58 Prozent, also gut 4,5 Millionen, eine körperliche Behinderung (Statistisches Bundesamt, 2022). Das sind immerhin rund fünf Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung.
Mit eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten geht auch eine Einschränkung der Arbeitsmöglichkeiten einher. Nehmen wir als Beispiel Immobilität, Blindheit oder auch die Unfähigkeit, längere Zeit zu stehen oder zu sitzen. Diese Einschränkungen schließen die meisten Berufe aus oder stellen besondere Anforderungen an die Gestaltung des Arbeitsplatzes. Das schreckt viele Arbeitgeber:innen ab.
Behinderung als Vermittlungshemmnis
Die Unsicherheiten auf Arbeitgeberseite sind einfach zu groß: Welche Anforderungen muss ich erfüllen? Sind Menschen mit Schwerbehinderung genau so leistungsfähig wie uneingeschränkte Menschen? Stehen Umbauten an? Sind schwerbehinderte Mitarbeitende nicht unkündbar?!
Insbesondere kleinere Unternehmen stoßen bei einer behindertengerechten Arbeitsplatzgestaltung schnell an ihre Grenzen. Behindertengerechte Toiletten? Aufzug? Ausreichende Flur- und Türbreiten? Spezielle Arbeitsmittel?
Das klingt alles nach hohem Aufwand und noch höheren Kosten – im Zweifelsfall fällt die Personalentscheidung daher eher zugunsten der Jobbewerber:innen ohne Behinderung.
„Behindertenquote“ ohne Schlagkraft
Daran ändert auch die sogenannte „Behindertenquote“ nichts. Diese besagt, dass Unternehmen mit 20 oder mehr Mitarbeitenden mindestens einen schwerbehinderten Menschen beschäftigen müssen. Erfüllt ein Unternehmen diese 5-Prozent-Quote nicht, werden Ausgleichsabgaben von bis zu 360 Euro im Jahr (Stand 2022) fällig.
Festanstellung meist zu unflexibel
Die individuellen Bedürfnisse schwerbehinderter Menschen sind im Anstellungsverhältnis nur selten erfüllbar. Das können etwa besonders flexible Arbeitszeiten sein, regelmäßige Pausen oder eine reizarme Umgebung. Das Problem: Sofern die Tätigkeit selbst eine solche Flexibilität zulässt, tut es das Unternehmen oftmals nicht. Oder umgekehrt.
Selbstständigkeit als Schlüssel
Eine Teilhabe an der Arbeitswelt ist aus Sicht vieler Menschen mit Schwerbehinderung nur in der Selbstständigkeit möglich. Hier können sie Inhalte und Rahmenbedingungen selbst bestimmen und exakt ihren individuellen Bedürfnissen anpassen.
Neben dem ökonomischen Aspekt, sich mit der eigenen Arbeit selbst zu versorgen, geht es auch um soziale und emotionale Faktoren: Unabhängig sein von staatlicher Unterstützung, den eigenen Weg gehen, sich selbst den Raum zur beruflichen Entfaltung schaffen, Respekt und Anerkennung im aktiven Berufsleben erfahren.
(Fast alle) Unsicherheiten sind vom Tisch
Die großen Unsicherheitsthemen wie Arbeitsplatzgestaltung und Kündigungsschutz spielen bei der Beauftragung von Freiberufler:innen oder Solo-Selbstständigen mit schwerer Behinderung keine Rolle mehr. Das Vorurteil bezüglich einer möglicherweise geringeren Leistungsfähigkeit gegebenenfalls schon.
Besser selbstständig dank Behinderung?
Die Erfahrung der meisten Menschen bezüglich körperlicher Einschränkungen bewegt sich auf dem Level von Beinbruch oder Gelenkentzündung. Unangenehm, keine Frage. Aber weit entfernt von einer schweren Behinderung. Dennoch helfen sechs Wochen auf Unterarmgehstützen vielleicht, etwas besser zu verstehen, was es in dieser Welt bedeutet, körperlich eingeschränkt zu sein.
Eine Idee von einem Alltag ohne Augenlicht liefert ein Besuch im „Dialog im Dunkeln“ in Hamburg. Hier wirst du von blinden Guides durch absolut lichtlose Räume und die unterschiedlichsten Alltagssituationen geführt.
Ich kann mir nur ausmalen, welche innere Kraft es erfordert, tagtäglich Einschränkungen zu erleben, mit denen das Leben noch mal eine Spur komplizierter wird, die Welt inkompatibler, die Gesellschaft unnahbarer. Ich persönlich traue einem Menschen mit einer solchen (oder ähnlichen) Erfahrung deutlich mehr Weitsicht, Ausdauer und kreative Lösungskompetenz zu, als Menschen ohne diesen Erfahrungsschatz.
Ich möchte nicht so weit gehen, dass Menschen mit Behinderung die besseren Selbstständigen oder Freiberufler:innen sind. Aber sie bringen aufgrund ihrer Erfahrungen bestimmte Fähigkeiten mit, die durchaus nützlich für eine erfolgreiche Selbstständigkeit sein können.
Mehr Weitsicht in jeder Hinsicht
Notgedrungen sind Schwerbehinderte oft deutlich weitsichtiger als nichtbehinderte Menschen. Ein:e Rollstuhlfahrer:in muss sich beispielsweise frühzeitig Gedanken machen, wie er:sie einen zugeparkten Gehsteig überwindet oder einen bestimmten Bahnsteig erreicht. Diese Voraussicht legen Menschen mit Behinderung häufig auch bei der Entwicklung eines Geschäftsmodells an den Tag, insbesondere bei der realistischen Einschätzung der Chancen und Risiken einer Investition.
Gleiche Chancen? Nicht ganz
Bei einer Gründung haben schwerbehinderte Menschen mit den gleichen Themen zu ringen, wie Menschen ohne Behinderung. Nur dass die körperlichen Einschränkungen viele dieser Dinge deutlich erschweren. Auf dem Weg zum Finanzamt ist der Fahrstuhl im Bahnhof mal wieder defekt, wichtige Informationsseiten im Internet sind nicht barrierefrei und die:der Bankberater:in traut der Person im Rolli „bei allem Respekt“ sein Vorhaben einfach nicht zu.
Im Gegensatz dazu gibt es recht wenig gezielte Unterstützung. So können sich Menschen mit Schwerbehinderung zusätzlich zu den „normalen“ Möglichkeiten um eine Förderung durch das Integrationsamt bemühen. Dieses leistet auch Zuschüsse zu technischen Arbeitshilfen, Fortbildungen sowie Wohnungshilfen.
Integration beginnt mit Bewusstsein
Als Mensch ohne körperliche Behinderung macht man sich über all diese Details in der Regel keinen Kopf. Könnte man aber mal. Denn Inklusion beginnt damit, dass einem bewusst wird, dass sie fehlt.
Drei Take-Aways in Kürze
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